23.10.2022 | Klassiker

60 Jahre Alpine A110

Als 1962 eine französische Schönheit auf Rädern die Bühne des Pariser „Salon de l’Automobile“  betrat, hatte der Name „Alpine“ bei Motorsport-Insidern längst einen exzellenten Klang. Vor allem auf Rallyes und bei Langstreckenrennen hatte die 1955 gegründete Sportwagenmanufaktur mit Siegen und Podiumsplätzen immer wieder auf sich aufmerksam gemacht.

Mit nur 1,12 Metern Höhe, einer aerodynamisch geformten Frontpartie, Scheinwerfern hinter Plexiglas, der flach verlaufenden Frontscheibe, niedrigen Seitenfenstern und einem sanft abfallenden Po zeigte die A110 Berlinette „Tour de France“  schon optisch, dass sie auf beziehungsweise für die Rennstrecke geboren war. Dabei verbarg sich unter ihrem eng anliegenden Kunststoffkleid überwiegend Großserientechnik – gemäß der Markenphilosophie, „Sportwagen für jedermann“ zu bauen. Die Motoren beispielsweise stammten aus dem Renault 8 und später aus dem Renault 16 und wurden, je  nach Einsatzzweck, von den Haustunern Amédée Gordini und Marc Mignotet entsprechenden Ertüchtigungsprogrammen unterzogen. Daraus resultierten bis 138 PS für die Rundstreckenversionen und sogar 200 PS für die Rallye-Boliden. Der Umstand, dass das Herz der Franko-Flunder heckseits schlug, verschaffte ihr Traktionsvorteile, die sie im sportlichen Wettstreit ausgiebig zu ihrem Vorteil nutzte.

Für das exzellente Kampfgewicht der 1962er A110-Urversion, die gerade einmal 575 Kilogramm auf die Waage brachte, sorgte vor allem ihre Leichtbaukarosserie. In späteren Ausführungen legt die zierliche Französin zwar auf bis zu 730 Kilogramm zu, zählte damit aber immer noch zu den leichtesten Seriensportlern ihrer Zeit, pardon: Sportlerinnen (Gender, wem Gender gebührt!). Jegliche Form von gewichtstreibendem Komfort verbot sich von selbst, und auch beim Chassis zählte jedes nicht vorhandene Gramm. Ein längs liegendes Zentralrohr mit Aufnahmen für Vorder- und Hinterachse und ein Hilfsrahmen aus Rechteckrohren für Motor, Getriebe und Differenzial bildeten den fahraktiven Unterbau – eine schnörkellose, konsequent zielorientierte Technikmixtur, die den Grundstein für besagte Motorsportkarriere legte.

In guter Markentradition konzentrierte man sich dabei auf den Rallyesport, wo nach ersten Erfolgen auf nationaler Ebene mit der Alpine A110 1600 S der Durchbruch bei den großen internationalen Rallyes gelang. Die „Krönungsmessen“ dieser Laufbahn wurden mit dem Gewinn der internationalen Markenmeisterschaft 1971 und der ersten Rallye-Weltmeisterschaft 1973 gelesen, zumal Alpine-Piloten in beiden Jahren auch spektakuläre Dreifachsiege bei der Rallye Monte Carlo in den A110-Annalen verewigten. 1971 driftete das schwedisch-britische Duo Ove Andersson/David Stone auf die höchste Stufe des Siegertreppchens, 1973 gelang der gleiche Coup einer rein französischen Besetzung: nämlich Jean-Claude Andruet und seiner Copilotion Michèle Espinosi-Petit.

Die Rallyeerfolge trieben den Absatz von „Le Turbot“ (der Plattfisch), wie Fans die A110 liebevoll nannten, in beachtliche Höhen. Immerhin 7.489 Exemplare baute Alpine, die meisten davon in der französischen Rennfarbe Blau. Lizenzfahrzeuge entstanden außerdem bei FASA in Spanien, DINA in Mexiko, bei Willys Overland in Brasilien und Bulgaralpine in Bulgarien.

Als im Juli 1977 die letzte A110 vom Band rollte, hatte sie nicht nur auf Rennstrecken unauslöschliche Spuren hinterlassen, sondern mindestens ebenso tiefe in den Herzen vieler (nicht nur frankophiler) Auto-Maniacs. Womit natürlich der Boden für eine veritable Legendenbildung bestens bereitet war.

Nach fast 40 Jahren zerebraler Reifezeit war es dann soweit. Anfang 2016 zeigte die Group Renault mit der „Alpine Vision“ ein Konzeptfahrzeug, das die geplante Neuauflage mehr als erahnen ließ. Und tatsächlich: Schon ein Jahr später, auf dem Genfer Automobilsalon 2017, flackerte der magische Code A110 erneut über den Schirm der Autowelt. Und das nicht etwa in Form eines schnöden Identitätsmissbrauchs unter den Knute absatzsüchtiger Marketing-Junkies, sondern mit einer traditionsbewussten, sensibel austarierten Transformation in die Gegenwart. So orientierte sich das Design am historischen Vorbild, wies aber gleichzeitig moderne Stilelemente und Materialien auf. Für sportlichen Vortrieb, stürmische 4,5 Sekunden für den Sprint auf 100 km/h und 250 km/h Topspeed sorgt bis heute ein 1,8-Liter-Turbobenziner mit 252 PS. In den Topvarianten „GT“ und „S“ befördern sogar 300 gallische Gäule die Fuhre mit bis zu 275 km/h.

Ganz im Sinn der legendären Namensgeberin trägt zur dieser bemerkenswerten Performance wiederum die Abwesenheit von Übergewicht maßgeblich bei. Mit maximal 1.194 Kilogramm Leergewicht zählt Mademoiselle wiederum zu den zartesten Geschöpfen ihrer Klasse. Den einzigen Stilbruch – ihr Herz schlägt nunmehr in Mittellage anstatt hinten – lassen wir durchgehen. Denn erstens ist er nicht sichtbar. Und zweitens der Agilität äußerst förderlich.

Wie die im Juli 2022 präsentierte Konzeptstudie Alpine A110 E-ternité zeigt, steht nach der Techno-Evolution aus dem zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert in absehbarer Zeit ein weiterer Entwicklungsschritt an: Der Plattfisch macht sich locker für eine Zukunft, in der nur überlebt, wer seine Leistung in kW angibt statt in PS und seinen Reiseproviant nicht in Litern bemisst, sondern in Kilowattstunden. Heißt: Die Alpine, die heute noch unbefangen ein scharf gewürztes Kohlenwasserstoffsüppchen in reine Fahrfreude verstoffwechselt, mutiert zur vollelektrischen Sportlerin. Mit surrendem Elektromotor, zwölf geschickt ausbalancierten Batteriemodulen in Front und Heck sowie Performancewerten, die denen der zukünftigen Vorgängerin ebenbürtig sein sollen. Damit verkörpere „auch die A110E-ternité den Alpine typischen Sportsgeist à la française“, verspricht der Hersteller.

Wir werden sehen, mon chère, ob Du uns dann immer noch elektrisierst.